Ein Kommentar von Schrödinger.
Als ich heute früh meine Tochter zur Schule brachte, weil sie mit öffentlichen Verkehrsmitteln anderthalb Stunden statt 15 Minuten unterwegs wäre, sprach der Deutschlandfunk über die Meldungen der Süddeutschen Zeitung und des Norddeutschen Rundfunks: Aus der Verhandlungsführung sei durchgesickert, dass die Verhandlungen mit USA über ein so genanntes No-Spy-Abkommen im Stocken seien – es werde wohl kein solches Abkommen geben.
Regierungskreise wiegeln ab: Man habe ja noch drei Monate Zeit und überhaupt wolle man diese Information nicht bestätigen. Ich fühle mich an die Zeit vor der Bundestagswahl erinnert. Wahlkampf zum Wohlfühlen. »Euch geht’s gut. Und wir kümmern uns drum, dass das auch so bleibt. Lasst uns nur machen. Klappt doch.« So habe ich diese Kampagne erlebt.
Die bittere Wahrheit ist aber: Uns geht es überhaupt nicht gut.
Die soziale Schere geht auf – auch wenn man das nicht gerne zugibt. Viele wähnen sich nicht zu Unrecht auf dem abwärts zeigenden Scherenblatt und wollen sich in ihrer Angst, weiter abzurutschen, irgendwo abstützen. Wer böte sich da besser an als der Nächste, dem es noch ein bisschen schlechter geht. Seien es Flüchtlinge, Schwule oder noch einfacher »Ausländer«. Mich schaudert, wenn ich sehe, dass 80.000 Menschen eine Petition unterzeichnen, mit der sie Aufklärung über andere sexuelle Identitäten und damit auch über alternative Familienbilder aus den Schulen fernhalten wollen. In der – historisch nicht ganz unbekannten – Reaktion auf eigene Not suchen sich viele Menschen leicht identifizierbare Gruppen, auf denen sie ihre Unzufriedenheit abladen können. Fremdenfeindlichkeit, Homophobie und Ausgrenzung blühen. Da ist es doch super, wenn FRONTEX jetzt auch Drohnen einsetzt, um die Flüchtlingsboote im Mittelmeer möglichst früh abzufangen. Soll es »denen« doch da schlecht gehen, wo sie her kommen. Hier sind sie jedenfalls nicht willkommen. Kommen wirklich nur mir da die »Deutschland den Deutschen«-Rufe in den Sinn? Wirklich?
Andere machen ihrer Wut und ihrer Verzweiflung Luft, indem sie Steine werfen, wie zuletzt in Hamburg. Anstatt sich zu fragen: »Sind das wirklich nur ›linke Chaoten‹, die Spaß am Zerstören haben, oder stecken da vielleicht auch konkrete Not, Verzweiflung an der eigenen Situation oder an der Situation anderer dahinter?«, gibt man der Polizei das Recht, Gebiete auszurufen, in denen viele Grundrechte außer Kraft gesetzt sind und noch mehr Grundrechte missachtet werden. Innenpolitiker aus konservativen Kreisen schlagen gar Anmelderhaftung für Demonstrationen vor. Viel eindeutiger kann man es eigentlich nicht mehr sagen: »Ihr sollt Angst bekommen, Demonstrationen anzumelden.« Für die Demonstranten selbst haben diese Innenpolitiker dann den neuerdings als Allzweckwaffe sehr beliebten Führerscheinentzug oder – besonders perfide – Zugangserschwerungen zur Bildung, also Abitur und Studium, im Repertoire. Als ob sich die Ursachen der Gewalt durch Einschüchterung und Bildungsausschluss lösen ließen. Dann doch lieber draufschlagen. Hey, die Leute, die damals das Grundgesetz zusammengeschrieben haben – die hatten gute Gründe dafür, Meinungsfreiheit und Demonstrationsrecht darin zu verankern.
Und ich könnte endlos weiterschreiben. Über Drogenpolitik, dem Immer-noch-nicht-Verbot von Abgeordnetenbestechung, die Tatsache, dass Lobbyisten Gesetze schreiben, über dreiste Lügen und geschicktes Dummstellen. Aber uns geht es ja gut.
Apropos dumm stellen: Ich komme zum Anlass dieses Kommentars zurück:
Halten die uns eigentlich für völlig bescheuert?
Ein No-Spy-Abkommen mit den USA? Haben die USA ein solches Abkommen mit irgendeinem Land? Nein. Haben wir ein solches Abkommen mit irgendeinem Land? Nein. Haben »die USA« irgendeinen Anlass, mit uns ein solches Abkommen zu schließen? Nein.
Die hören uns ab. Die hören die ganze Welt ab. Weil sie es können. Und ich schreibe bewusst »die USA« in Abführungszeichen. Denn ich habe so viele freundliche und hilfsbereite Amerikaner und Amerikanerinnen erlebt, ältere Menschen, die offen gegenüber mir als Deutschem waren und die mir erzählt haben, dass ihr Vater oder Onkel im Krieg gefallen ist. Gegen Deutschland. »Let’s get a beer, I like your accent.« Es fällt mir immer noch schwer, zu glauben, dass diese Menschen sich nach den Attentaten des 11. September 2001 fanatisieren ließen, dass sie nun weltumspannende Ausforschung der Privatsphäre möglichst aller Menschen gut finden sollten – solange nur nicht zufällig auch Amerikaner darunter sind. Ich will das nicht glauben!
Nein, da ist genau dasselbe Gedankengut am Werk, mit dem »konservative« Politiker in Deutschland Demonstrationen bewusst eskalieren lassen, dasselbe Gedankengut, mit dem ein Wirtschaftsminister die Warnung von Experten vor dem bevorstehenden »sozialem Unfrieden« aus dem IV. Armutsbericht streicht. Und diese Forscher haben nicht Stammtisch-Empörung gemeint. Diese Forscher wollten vor Straßenschlachten warnen, wie jüngst in Marseille.
Ich bin zu den Piraten gekommen, weil ich möchte, dass meine Enkel so aufwachsen können wie ich: Sozial einigermaßen abgesichert, auch wenn’s mal brenzlig wird. Und in der Freiheit, zur eigenen Meinung stehen zu können – und eine haben zu dürfen. Ohne Angst vor Repression. Ohne das Bewusstsein, dass nicht nur jedes öffentlich gesprochene Wort, sondern über mein Telefon auch jedes privat gesprochene Wort und buchstäblich jeder Schritt überwacht wird, urkundlich wird, irgendwann gegen mich verwendet werden kann.
Ich habe neulich gehört, dass in Handys auch Gassensoren eingebaut werden sollen. Das ist unglaublich gut, weil ich dann meinen eigenen kleinen Feuermelder in der Tasche habe – und das ist unglaublich beängstigend, weil dann weltweit Geheimdienste nicht nur wissen, wann ich zur Toilette gehe, sondern auch, wie meine Verdauung funktioniert. Paranoia? Nicht wirklich. Machen Sie sich mal Gedanken darüber, warum Sie Gardinen vor den Fenstern haben und zum Telefonat mit der besten Freundin die Tür zumachen. Und wie Sie es fänden, wenn Ihre Briefe künftig geöffnet in Ihrem Briefkasten liegen oder beim Stadtspaziergang eine lustige kleine Überwachungsdrohne hinter ihnen herflöge. Aber das ist jetzt doch Paranoia? Nein, denn Ihre E-Mails, Ihre Seitenbesuche im Internet, die kleinen Geheimnisse, die Sie über Facebook austauschen – all das wird bereits jetzt auf die Weise »geöffnet«, wie das im Internet eben geht. Jetzt und hier. Aber das mit dem Hinterherfliegen…? Auch nicht. Denn Sie haben ein Handy bei sich. Schon Zehnjährige haben das. Bewegungsprofile leicht gemacht: Denn Sie helfen mit.
Und in dieser Situation erzählt mir eine 80-Prozent-Regierung, sie habe ja noch drei Monate Zeit, bis sie dann das voraussehbare Scheitern der Verhandlungen mit den USA über dieses No-Spy-Abkommen verkünden kann. Ich kann mir diese »Verhandlungen« gut vorstellen: »Könnten wir nicht…?« »Nein.« »Aber…« »Was genau an ›Nein‹ haben Sie nicht verstanden?« Und ja, das ist halt so. Da kann unsere Regierung, und wenn es Piraten wären, nichts, gar nichts dran ändern. Aber sie könnte es zugeben und ernsthafte Bemühungen unternehmen, unsere Grundrechte wenigstens notdürftig wiederherzustellen. Sie könnte wenigstens hier zu Hause Abschnorchelei und Ausforschung unterbinden. Sie könnte beherzte Maßnahmen ergreifen, Verschlüsselung und Härtung gegen Angriffe zum nationalen Forschungsziel zu erklären. Sie könnte in sich gehen und überlegen, ob sie möglicherweise sogar selbst damit aufhört, auf meiner, unserer, Ihrer Privatsphäre mit Füßen herumzutrampeln. Das wäre gar nicht so schwer, denn der Verzicht auf anlasslose Speicherung von Telekommunikations-Verbindungsdaten, Funkzellenabfragen und die berühmten »stillen SMS« haben anerkanntermaßen ja ohnehin keinerlei Einfluss auf reale Sicherheit – es erhöht allenfalls die gefühlte Sicherheit in den Köpfen jener Menschen, für die nicht nur das Internet in der Tat noch »Neuland« ist, sondern auch das Grundgesetz. Leider besetzen solche Menschen zurzeit Schlüsselstellungen in der Regierung.
Aber wir waren beim No-Spy-Abkommen und den Möglichkeiten, die der Regierung durchaus zur Verfügung stehen würden, die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger wiederherzustellen.
Und es gibt Möglichkeiten, diesen Grundrechtsverletzungen entgegenzutreten.
Denn die US-amerikanischen Partner können zwar die ganze Welt überwachen, sie müssen es aber nicht. Und jenseits der oben angedeuteten, eher defensiven Maßnahmen, sind durchaus auch offensive Schritte denkbar, es den US-Diensten ein bisschen schwerer zu machen, ihre Träume von totaler Kontrolle umzusetzen. Natürlich muss als Sofortmaßnahme z. B. die Weitergabe von Bankdaten (SWIFT) ausgesetzt oder besser beendet werden. Aber der Weg zu wirklich schmerzhaften Maßnahmen führt über die Etathoheit der Parlamente.
Wir müssen Angriffspunkte finden, die für diese Parlamente und die Gruppen hinter den Parlamentariern wichtig sind. Richtig wichtig! Und richtig wichtig wird es immer dann, wenn es um Geld geht. Am besten um viel Geld. Und da kommt mir zuallererst TAFTA in den Sinn. Das Freihandelsabkommen, in dem international agierenden Konzernen Klagerechte gegen Staaten eingeräumt werden, wenn deren Arbeits-, Umwelt- oder Verbraucherschutzbestimmungen ihnen zu stark erscheinen und sie darin »Handelshemmnisse« vermuten. Das Freihandelsabkommen, das zur Zeit hinter verschlossenen Türen verhandelt wird, und zu dem Zivilgesellschaft und NGOs keinen Zugang haben, dafür aber Industrieverbände und Lobbyvertreter. Das Freihandelsabkommen, das die Große Koalition so wichtig findet, dass sie es in einem kurzen Absatz in ihrem Koalitionsvertrag befürwortet – ganz offensichtlich, ohne dass die Parlamentarier auch nur eine blassen Schimmer davon haben, was in diesem Abkommen überhaupt stehen wird. Einfach absetzen! Raus aus den Verhandlungen! Als kleine Warnung, dass wir nicht alles mit uns machen lassen.
Ist das jetzt banal und eine einfache Weltsicht? Nein. Denn manchmal liegen die Dinge wirklich so einfach, wie sie aussehen. Und hier ist klar: So geht es nicht weiter! Alles, das ich oben nur streifen konnte, muss jetzt angegangen werden. Dringend!
Wir brauchen die Grundsicherung der gesellschaftlichen Teilhabe. Den im Koalitionsvertrag versprochene Mindestlohn von 8,50 EUR ohne Wenn und Aber umzusetzen wäre ein erster kleiner Schritt dorthin.
Wir brauchen die Grundsicherung von Meinungsfreiheit und Demokratie – durch vollständigen Verzicht auf anlasslose Überwachung und durch Investition in Bildung und in Transparenz des Staates, damit die Bürgerinnen und Bürger ihre Mitgestaltungsmöglichkeiten, von denen viele erst geschaffen werden müssen, auch nutzen können.
Und wir brauchen eine Regierung, die – verzeihen Sie mir die deutliche Sprache – den Arsch in der Hose hat, das auch durchzuziehen. Die Europawahl wäre eine gute Möglichkeit, hier ein eindeutiges und unüberhörbares Signal zu setzen.
Ein Kommentar von Schrödinger.
Als ich heute früh meine Tochter zur Schule brachte, weil sie mit öffentlichen Verkehrsmitteln anderthalb Stunden statt 15 Minuten unterwegs wäre, sprach der Deutschlandfunk über die Meldungen der Süddeutschen Zeitung und des Norddeutschen Rundfunks: Aus der Verhandlungsführung sei durchgesickert, dass die Verhandlungen mit USA über ein so genanntes No-Spy-Abkommen im Stocken seien – es werde wohl kein solches Abkommen geben.
Regierungskreise wiegeln ab: Man habe ja noch drei Monate Zeit und überhaupt wolle man diese Information nicht bestätigen. Ich fühle mich an die Zeit vor der Bundestagswahl erinnert. Wahlkampf zum Wohlfühlen. »Euch geht’s gut. Und wir kümmern uns drum, dass das auch so bleibt. Lasst uns nur machen. Klappt doch.« So habe ich diese Kampagne erlebt.
Die bittere Wahrheit ist aber: Uns geht es überhaupt nicht gut.
Die soziale Schere geht auf – auch wenn man das nicht gerne zugibt. Viele wähnen sich nicht zu Unrecht auf dem abwärts zeigenden Scherenblatt und wollen sich in ihrer Angst, weiter abzurutschen, irgendwo abstützen. Wer böte sich da besser an als der Nächste, dem es noch ein bisschen schlechter geht. Seien es Flüchtlinge, Schwule oder noch einfacher »Ausländer«. Mich schaudert, wenn ich sehe, dass 80.000 Menschen eine Petition unterzeichnen, mit der sie Aufklärung über andere sexuelle Identitäten und damit auch über alternative Familienbilder aus den Schulen fernhalten wollen. In der – historisch nicht ganz unbekannten – Reaktion auf eigene Not suchen sich viele Menschen leicht identifizierbare Gruppen, auf denen sie ihre Unzufriedenheit abladen können. Fremdenfeindlichkeit, Homophobie und Ausgrenzung blühen. Da ist es doch super, wenn FRONTEX jetzt auch Drohnen einsetzt, um die Flüchtlingsboote im Mittelmeer möglichst früh abzufangen. Soll es »denen« doch da schlecht gehen, wo sie her kommen. Hier sind sie jedenfalls nicht willkommen. Kommen wirklich nur mir da die »Deutschland den Deutschen«-Rufe in den Sinn? Wirklich?
Andere machen ihrer Wut und ihrer Verzweiflung Luft, indem sie Steine werfen, wie zuletzt in Hamburg. Anstatt sich zu fragen: »Sind das wirklich nur ›linke Chaoten‹, die Spaß am Zerstören haben, oder stecken da vielleicht auch konkrete Not, Verzweiflung an der eigenen Situation oder an der Situation anderer dahinter?«, gibt man der Polizei das Recht, Gebiete auszurufen, in denen viele Grundrechte außer Kraft gesetzt sind und noch mehr Grundrechte missachtet werden. Innenpolitiker aus konservativen Kreisen schlagen gar Anmelderhaftung für Demonstrationen vor. Viel eindeutiger kann man es eigentlich nicht mehr sagen: »Ihr sollt Angst bekommen, Demonstrationen anzumelden.« Für die Demonstranten selbst haben diese Innenpolitiker dann den neuerdings als Allzweckwaffe sehr beliebten Führerscheinentzug oder – besonders perfide – Zugangserschwerungen zur Bildung, also Abitur und Studium, im Repertoire. Als ob sich die Ursachen der Gewalt durch Einschüchterung und Bildungsausschluss lösen ließen. Dann doch lieber draufschlagen. Hey, die Leute, die damals das Grundgesetz zusammengeschrieben haben – die hatten gute Gründe dafür, Meinungsfreiheit und Demonstrationsrecht darin zu verankern.
Und ich könnte endlos weiterschreiben. Über Drogenpolitik, dem Immer-noch-nicht-Verbot von Abgeordnetenbestechung, die Tatsache, dass Lobbyisten Gesetze schreiben, über dreiste Lügen und geschicktes Dummstellen. Aber uns geht es ja gut.
Apropos dumm stellen: Ich komme zum Anlass dieses Kommentars zurück:
Halten die uns eigentlich für völlig bescheuert?
Ein No-Spy-Abkommen mit den USA? Haben die USA ein solches Abkommen mit irgendeinem Land? Nein. Haben wir ein solches Abkommen mit irgendeinem Land? Nein. Haben »die USA« irgendeinen Anlass, mit uns ein solches Abkommen zu schließen? Nein.
Die hören uns ab. Die hören die ganze Welt ab. Weil sie es können. Und ich schreibe bewusst »die USA« in Abführungszeichen. Denn ich habe so viele freundliche und hilfsbereite Amerikaner und Amerikanerinnen erlebt, ältere Menschen, die offen gegenüber mir als Deutschem waren und die mir erzählt haben, dass ihr Vater oder Onkel im Krieg gefallen ist. Gegen Deutschland. »Let’s get a beer, I like your accent.« Es fällt mir immer noch schwer, zu glauben, dass diese Menschen sich nach den Attentaten des 11. September 2001 fanatisieren ließen, dass sie nun weltumspannende Ausforschung der Privatsphäre möglichst aller Menschen gut finden sollten – solange nur nicht zufällig auch Amerikaner darunter sind. Ich will das nicht glauben!
Nein, da ist genau dasselbe Gedankengut am Werk, mit dem »konservative« Politiker in Deutschland Demonstrationen bewusst eskalieren lassen, dasselbe Gedankengut, mit dem ein Wirtschaftsminister die Warnung von Experten vor dem bevorstehenden »sozialem Unfrieden« aus dem IV. Armutsbericht streicht. Und diese Forscher haben nicht Stammtisch-Empörung gemeint. Diese Forscher wollten vor Straßenschlachten warnen, wie jüngst in Marseille.
Ich bin zu den Piraten gekommen, weil ich möchte, dass meine Enkel so aufwachsen können wie ich: Sozial einigermaßen abgesichert, auch wenn’s mal brenzlig wird. Und in der Freiheit, zur eigenen Meinung stehen zu können – und eine haben zu dürfen. Ohne Angst vor Repression. Ohne das Bewusstsein, dass nicht nur jedes öffentlich gesprochene Wort, sondern über mein Telefon auch jedes privat gesprochene Wort und buchstäblich jeder Schritt überwacht wird, urkundlich wird, irgendwann gegen mich verwendet werden kann.
Ich habe neulich gehört, dass in Handys auch Gassensoren eingebaut werden sollen. Das ist unglaublich gut, weil ich dann meinen eigenen kleinen Feuermelder in der Tasche habe – und das ist unglaublich beängstigend, weil dann weltweit Geheimdienste nicht nur wissen, wann ich zur Toilette gehe, sondern auch, wie meine Verdauung funktioniert. Paranoia? Nicht wirklich. Machen Sie sich mal Gedanken darüber, warum Sie Gardinen vor den Fenstern haben und zum Telefonat mit der besten Freundin die Tür zumachen. Und wie Sie es fänden, wenn Ihre Briefe künftig geöffnet in Ihrem Briefkasten liegen oder beim Stadtspaziergang eine lustige kleine Überwachungsdrohne hinter ihnen herflöge. Aber das ist jetzt doch Paranoia? Nein, denn Ihre E-Mails, Ihre Seitenbesuche im Internet, die kleinen Geheimnisse, die Sie über Facebook austauschen – all das wird bereits jetzt auf die Weise »geöffnet«, wie das im Internet eben geht. Jetzt und hier. Aber das mit dem Hinterherfliegen…? Auch nicht. Denn Sie haben ein Handy bei sich. Schon Zehnjährige haben das. Bewegungsprofile leicht gemacht: Denn Sie helfen mit.
Und in dieser Situation erzählt mir eine 80-Prozent-Regierung, sie habe ja noch drei Monate Zeit, bis sie dann das voraussehbare Scheitern der Verhandlungen mit den USA über dieses No-Spy-Abkommen verkünden kann. Ich kann mir diese »Verhandlungen« gut vorstellen: »Könnten wir nicht…?« »Nein.« »Aber…« »Was genau an ›Nein‹ haben Sie nicht verstanden?« Und ja, das ist halt so. Da kann unsere Regierung, und wenn es Piraten wären, nichts, gar nichts dran ändern. Aber sie könnte es zugeben und ernsthafte Bemühungen unternehmen, unsere Grundrechte wenigstens notdürftig wiederherzustellen. Sie könnte wenigstens hier zu Hause Abschnorchelei und Ausforschung unterbinden. Sie könnte beherzte Maßnahmen ergreifen, Verschlüsselung und Härtung gegen Angriffe zum nationalen Forschungsziel zu erklären. Sie könnte in sich gehen und überlegen, ob sie möglicherweise sogar selbst damit aufhört, auf meiner, unserer, Ihrer Privatsphäre mit Füßen herumzutrampeln. Das wäre gar nicht so schwer, denn der Verzicht auf anlasslose Speicherung von Telekommunikations-Verbindungsdaten, Funkzellenabfragen und die berühmten »stillen SMS« haben anerkanntermaßen ja ohnehin keinerlei Einfluss auf reale Sicherheit – es erhöht allenfalls die gefühlte Sicherheit in den Köpfen jener Menschen, für die nicht nur das Internet in der Tat noch »Neuland« ist, sondern auch das Grundgesetz. Leider besetzen solche Menschen zurzeit Schlüsselstellungen in der Regierung.
Aber wir waren beim No-Spy-Abkommen und den Möglichkeiten, die der Regierung durchaus zur Verfügung stehen würden, die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger wiederherzustellen.
Und es gibt Möglichkeiten, diesen Grundrechtsverletzungen entgegenzutreten.
Denn die US-amerikanischen Partner können zwar die ganze Welt überwachen, sie müssen es aber nicht. Und jenseits der oben angedeuteten, eher defensiven Maßnahmen, sind durchaus auch offensive Schritte denkbar, es den US-Diensten ein bisschen schwerer zu machen, ihre Träume von totaler Kontrolle umzusetzen. Natürlich muss als Sofortmaßnahme z. B. die Weitergabe von Bankdaten (SWIFT) ausgesetzt oder besser beendet werden. Aber der Weg zu wirklich schmerzhaften Maßnahmen führt über die Etathoheit der Parlamente.
Wir müssen Angriffspunkte finden, die für diese Parlamente und die Gruppen hinter den Parlamentariern wichtig sind. Richtig wichtig! Und richtig wichtig wird es immer dann, wenn es um Geld geht. Am besten um viel Geld. Und da kommt mir zuallererst TAFTA in den Sinn. Das Freihandelsabkommen, in dem international agierenden Konzernen Klagerechte gegen Staaten eingeräumt werden, wenn deren Arbeits-, Umwelt- oder Verbraucherschutzbestimmungen ihnen zu stark erscheinen und sie darin »Handelshemmnisse« vermuten. Das Freihandelsabkommen, das zur Zeit hinter verschlossenen Türen verhandelt wird, und zu dem Zivilgesellschaft und NGOs keinen Zugang haben, dafür aber Industrieverbände und Lobbyvertreter. Das Freihandelsabkommen, das die Große Koalition so wichtig findet, dass sie es in einem kurzen Absatz in ihrem Koalitionsvertrag befürwortet – ganz offensichtlich, ohne dass die Parlamentarier auch nur eine blassen Schimmer davon haben, was in diesem Abkommen überhaupt stehen wird. Einfach absetzen! Raus aus den Verhandlungen! Als kleine Warnung, dass wir nicht alles mit uns machen lassen.
Ist das jetzt banal und eine einfache Weltsicht? Nein. Denn manchmal liegen die Dinge wirklich so einfach, wie sie aussehen. Und hier ist klar: So geht es nicht weiter! Alles, das ich oben nur streifen konnte, muss jetzt angegangen werden. Dringend!
Wir brauchen die Grundsicherung der gesellschaftlichen Teilhabe. Den im Koalitionsvertrag versprochene Mindestlohn von 8,50 EUR ohne Wenn und Aber umzusetzen wäre ein erster kleiner Schritt dorthin.
Wir brauchen die Grundsicherung von Meinungsfreiheit und Demokratie – durch vollständigen Verzicht auf anlasslose Überwachung und durch Investition in Bildung und in Transparenz des Staates, damit die Bürgerinnen und Bürger ihre Mitgestaltungsmöglichkeiten, von denen viele erst geschaffen werden müssen, auch nutzen können.
Und wir brauchen eine Regierung, die – verzeihen Sie mir die deutliche Sprache – den Arsch in der Hose hat, das auch durchzuziehen. Die Europawahl wäre eine gute Möglichkeit, hier ein eindeutiges und unüberhörbares Signal zu setzen.