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(K)ein Generationenkonflikt?

Es ist ein Plädoyer für die Nachhaltigkeit, das der bekannte Wissenschaftsjournalist Ranga Yogeshwar an diesem sonnigen Donnerstagabend im April in der Siegerlandhalle für das überwiegend im Vor-Rentenalter befindliche Publikum hält. Einige junge Frauen und Männer sind zu sehen, wenige Kinder. Der gut 500 Menschen fassende Saal ist voll, die Veranstaltung ausverkauft.

Auch wenn es entgegen der Ankündigung keine Bühnenexperimente gibt: Der Vortrag ist informativ, witzig, tiefgründig. Es fällt leicht zu folgen.

Es geht um Themen wie Erderwärmung, Energie, die Entwicklung des Fortschritts und die Auswirkungen seiner Inhalte und seiner Geschwindigkeit auf unsere Gesellschaft. Es geht um Werte.

Vieles kann ich unterschreiben.

Der Klimawandel ist ein existierender Prozess (wie auch nicht?) und der Mensch wirkt gestaltend auf seine Umwelt ein, womit Verantwortung einhergeht. Eine Solaranlage auf dem Dach eines Wohnhauses ist zwar lobenswert, wirklich kostengünstig wird so ein Haus aber erst, wenn man die Dämmung von Wänden, Fenstern und Dach vornimmt – was heute jeder Eigentümer relativ aufwandsarm realisieren kann. Es wird aus dem Nähkästchen geplaudert, wie wenig die im TV zu sehenden Moderatorinnen und auf Zeitungscovern abgebildeten Frauen ihrem eigenen Original glichen und dass Falten einen Menschen lebendig machen.

Der Fortschritt verändert unsere Freizeitgestaltung und unsere Kommunikation. „Fasse dich kurz“ auf Telefonzellen und die Gebrauchsanweisung einer Glühbirne (mit dem Hinweis, dass eine solche keinerlei gesundheitsschädlichen Auswirkungen hat) regen zum Schmunzeln an. Es wird richtig bemerkt, dass man sich als Jugendlicher heute anders verabredet als die eigenen Eltern. Während die einen sich für einen Tag an einem Ort zu einer Uhrzeit verabreden, kommunizieren die anderen „flüssig“: Pläne für die Abendgestaltung können kurzfristig entschieden werden – der kleine Seitenhieb, über seinen Sohn stellverstretend einer Generation gegeben „Wo trefft ihr euch denn heute? Sohn: Mal Gucken. – Wann lernst du deine Französischvokabeln? Sohn: Mal gucken“ erntet ein erheitertes Raunen, meinereiner, vom Alter und Sozialverhalten durchaus angesprochen, lacht herzlich mit.

Das Lachen vergeht mir wenig später.

World of Warcraft. Nach einer Einleitung, dass man damals draußen Fußball gespielt hätte und die jungen Leute heute „chillen“ würden – eingeblendet werden drei glückliche Durchschnittsjugendliche, die es sich vorm Fernseher gemütlich gemacht haben – kommt die Sprache auf World of Warcraft, kurz WoW.
Treffend und richtig erläutert Herr Yogeshwar den Unterschied zwischen Schach, „das ja auch Krieg darstellt“, und dem Online-Adventure: Das eine findet von Angesicht zu Angesicht statt, das andere online. Schach oder Mensch Ärgere Dich Nicht ist einmal zu Ende. WoW ist nie zu Ende.
Über WoW wird außerdem richtig berichtet: Man verabredet sich zum Spielen, und man ist darauf angewiesen, da ein Weiterkommen ohne Team nicht denkbar ist. Die Höhe des Spielabos entspricht etwa des monatlichen Taschengeldes. WoW macht süchtig (wobei ich hier richtiger fände: WoW kann süchtig machen). Einer Studie nach seien etwa 10% aller WoW-Spieler abhängig.
Zwischen dem virtuellen Bild eines abgemagerten Jugendlichen, äußerlich verkümmert und in Fetzen gekleidet, apathisch scheinend mit einer grün leuchtenden futuristischen Brille, die ihm wohl eine virtuelle Welt darstellen mag, wird die Statistik der Adipositas(Übergewicht)-Diagnosen bei Kindern zwischen 5 und 11 aufgelegt – oder war es vorher, nach der Bemerkung, dass Jugendliche zunehmend in andere Welten wie Second Life „flüchten“? Wie auch immer.
Ranga Yogeshwar fragt das Publikum, wer Kinder hat, die WoW spielen. Als ein Mann von seinem Kumpel erzählt, der wohl WoW spiele, sagt der Journalist: „Sagen Sie ihm, schmeißen Sie es weg. Oder ob Sie ihm einen Psychologen besorgen sollen.“ Und dann zu allen: „Die Politik verbietet das nicht – das finde ich nicht gut“.

Applaus.

Ich tippe auf zwei Drittel des Raumes, die da in die Hände klatschen. Mir scheint, es ist das erste Mal an diesem Abend, dass einige demonstrativ die Hände nicht bewegen.

Ein Ausflug in den Energiesektor beginnt, ich kann kaum folgen. Ein mir als zukünftige Lehrerin der Physik unwillkürlich zum Vorbild gewordener Moderator ist entzaubert. Eine kurze, subjektive Idee von der Masse der konservativ Denkenden, ein anderes Wort will mir in dem Moment nicht einfallen, fühlt sich beinahe an wie ein Schlag in den Nacken. Die Alternative für den Abend wäre ein Piratenstammtisch gewesen – Welten dazwischen.

Schließlich geht es um Werte.

Über Demographie wird gesprochen, die Alterung unserer Gesellschaft, wer sich um den hilfsbedürftigen Teil der Bevölkerung in Zukunft kümmern soll. Über Finnland und die Männer, die dort selbstverständlich später zur Arbeit kommen, wenn die Tochter in den Kindergarten gebracht werden muss oder die früher gehen, wenn der Sohn krank ist. Über Familie, über das gemeinsame Zusammensitzen. Darüber, dass für ihn selbst es früher keine bevorzugte Beschäftigung war, seine Schwiegereltern anzurufen, heute habe sich das geändert. Und dass auch die junge Generation davon etwas hätte, wenn man in der Familie mehr Gemeinsamkeit praktiziert. Weniger „Ich“, mehr „wir“. Und das „Geiz ist geil“ ein bescheuerter Spruch sei. – Meine völlige Zustimmung.

Er sagt auch, die Menschen würden verunsichert sein, wenn der Fortschritt zu schnell ginge und sich dann ablehnend verhalten. Welche Ironie.

In meinem Kopf derweil versuche ich Ordnung zu machen. Sollte es eine Diskussionsrunde geben, werde ich mich melden. Kalter Schweiß in den Händen – noch nie ist mir das auf einem Landesparteitag passiert. Trotz allem überlege ich mir eine selbstbewusste Vorgehensweise, auch wenn ich als 22 Jährige in der Runde der doppelt mit Lebenserfahrung Gesegneten meine Bedenken habe.

Die Diskussionsrunde kommt tatsächlich – als Dritte komme ich dran.

Dass ich eine Frage ans Publikum hätte und eine an ihn, sage ich. Dass jeder in diesem Raum wohl jemanden kennen mag, der Alkohol trinkt und vielleicht ein Problem damit hat. Dass einige, Leute kennen werden, die daran zu Grunde gegangen sind. Dass ich denke, dass die meisten dennoch sagen werden: „Wir können damit verantwortungsvoll umgehen, ein Glas Wein am Abend sei ok, oder eins in der Woche“. Ich erkläre, dass ich Freunde habe, die World of Warcraft spielen. Dass es Clans gibt, die sich tatsächlich nur wöchtentlich treffen und „wenn nicht, dann nicht“. Ich frage Ranga Yogeshwar, ob er Alkohol verbieten würde.

Ein paar wenige applaudieren, dies aber kräftig.

Als Antwort sagt er in etwa, dass es Missbrauch auch da gibt, bedenke man Alkopops, er aber nicht denke, dass 10% der Alkohol Trinkenden ein Alkoholproblem hätten. Er sei wohl für ein Verbot der Alkoholwerbung in der Vorweihnachtszeit, weil das die Zeit der größten Rückfallquote sei. Aber generell sei er nicht für ein Alkoholverbot, wohl aber deutlich für ein Verbot von WoW. Denn, wenn er ein Glas Wein mit jemandem trinke, säße man sich gegenüber und würde Kommunikation pflegen, wohingegen WoW assozial mache und das, was da ausgetauscht wird, er wohl kaum als Kommunikation bezeichnen würde.

Applaus. Diesmal kommt es mir vor, wie 4/5, oder die 2/3 sind diesmal besonders laut.

Ob ich einverstanden wäre, fragt er, und schaut mich an.
Ein Mann schräg vor mit antwortet für mich mit einem bestimmten „Ja!“.
Ich missachte diese Respektlosigkeit und schüttle den Kopf, erwidere, dass ich das Thema gern mit ihm weiter diskutieren würde und ihm mal eine Email schreiben werde.

Vorne wird gefragt, ob Verbote denn etwas bringen. Er sagt: Grundsätzlich nicht unbedingt, aber in dem Fall ja. Die Gesellschaft müsse den Eltern Werte an die Hand geben, wonach sollten sie denn erziehen und es wie durchsetzen? Als Beispiel wird die bis 22 Uhr chattende Tochter genannt, die ihren Eltern erklärt, dies täten alle.

Es gehe um ein Verbot, „das ein Zeichen setzt: Wir wollen das nicht.“

Ob es darauf Applaus gab, weiß ich nicht mehr – Bilder und Redepassagen von Ursula von der Leyen steigen in meinem Kopf auf. Symbolpolitik?

Ein paar Fragen kommen noch, schließlich wird die Gesellschaft zu kostenlosen Getränken und Signierstunde entlassen.

Ich fühle mich nach wie vor betäubt. Zwischen dem Versuch, meine Gefühlslage weiter auszuloten, überlege ich mir, was ich ihm geantwortet hätte, wäre die Gelegenheit eine andere gewesen.

Dass die Erwachsenen im Unterschied zu WoW ihren Kindern etwas zum Umgang mit Alkohol sagen können und sie deshalb vielleicht vor WoW mehr Angst haben, weil sie es nicht kennen. Dass 10% (so sie denn stimmen) WoW-Süchtige viel sind, dies aber eingedämmt werden könnte, wäre die Aufklärungsarbeit besser. Dass nominell betrachtet wohl mehr Menschen sich und ihrer Familie schweren Schaden durch Alkohol zufügen, als es überhaupt WoW-Spieler gibt. Dass ein Verbot nicht nur Jugendschutz, sondern Entmündigung der Erwachsenen bedeutet. Dass es rechtswirksame Grenzen längst gibt, wie z.B. die Altersbeschränkung, und Erziehungsberechtigte aufgefordert sind, diese einzuhalten. Dass dies genau die Regeln sind, die die Gesellschaft Eltern an die Hand gibt. Dass ein Großteil der Leute, die ich kenne, welche von Alkoholsucht oder sozialer Verwahrlosung betroffen sind, vor allem keine intakte Famlienstruktur erlebt haben, wohlmöglich gekoppelt mit mangelnder Zukunftsperspektive für sie als Jugendliche, und sich dadurch erst den Substanzen oder Ablenkungen bis zur Sucht zugewendet haben.

Es ist wohl notwendig und natürlich, diese Diskussion über Risiko-bergende Teile der Kultur anderer Leute zu führen – was World of Warcraft angeht, erhoffe ich mir als Ergebnis davon eine Lösung, die von Aktivität geprägt ist, die Handlungsmöglichkeiten aufzeigt und die die Selbstbestimmtheit der Mündigen, was die Wahl ihrer nicht-fremdgefährdenden Hobbys angeht, anerkennt.
Was ich mir generell wünsche ist, dass die Gesellschaft auf die Erziehungsfunktion der dazu Berechtigten pocht und ein ordentliches Verhalten sonstiger Lebenswelt-Mitgestalter einfordert. Unsere Gesellschaft gibt ihnen eine genügende Menge Regeln, Richtlinien und Normen an die Hand.

Freilich, dieses Einfordern erfordert Arbeit, täglich, immer wieder neu, von jedem von uns.

Aber es ist nachhaltiger, als dass sich „die Gesellschaft“ mit dem Hinweis auf ein symbolisches Verbot aus der Affäre zieht. Denn darauf würde es doch hinauslaufen, oder etwa nicht?

Disclaimer: Da ich keinen Mitschnitt oder ein Protokoll geführt habe, kann ich die Inhalte nur sinngemäß wiedergeben. Wo ein Zitat angeführt ist, sei sich der Leser bewusst, dass ich dieses mit äußerster Umsicht genannt habe, es aber aus meiner Erinnerung stammt.

verfasst von Anika am 23. April 2010